
Ende Legende: Der letzte Tango des Timo Boll!
Am Sonntag, 15. Juni 2025, ging um 16.40 Uhr in der Frankfurter Ballsporthalle (SÜWAG Energie Arena) eine ganz große Sportlerkarriere ganz unspektakulär zu Ende. Im dritten Satz des entscheidenden Doppels um die Bundesliga-Meisterschaft (nach den Einzeln stand es 2:2) schätzte Timo Boll einen Aufschlag falsch ein und verschlug.
Der Satz war verloren und damit das Spiel und damit die letzte Option auf den 35. Meistertitel für Borussia Düsseldorf, den erfolgreichsten Verein der deutschen Sportgeschichte (78 Titel, davon 34 mal Deutscher Meister, 28 mal Deutscher Pokalsieger, 16 mal Champions-League-Sieger, davon Triple in den Jahren 2010, 2011, 2018 und 2021). Der Siegerjubel in den Reihen des Erzrivalen TTC Liebherr Ochsenhausen war heftig, währte aber nicht allzu lange. Denn die Freude über das Double aus DTTB-Pokal- und TTBL-Meisterschaft trat sehr schnell in den Hintergrund und wich einer atmosphärischen Melange aus respektvollem Jubel und Wehmut. Alle 5.000 Zuschauer der restlos ausverkauften Ballsporthalle hatten sich von ihren Plätzen erhoben, nicht etwa um die Double-Sieger aus Ochsenhausen zu ehren.
Mit Standing Ovations huldigten sie gemeinsam mit allen Sportlerkollegen und Funktionären ausgerechnet einem Verlierer des heutigen Tages, der überdies mit dem letzten Ball seiner Profilaufbahn die Niederlage seines Vereins besiegelt hatte. Sie huldigten einem Überspieler, der den Tischtennissport über Jahrzehnte geprägt hat, in Deutschland wie kein Zweiter, in Europa wie nur noch der Schwede Jan-Ove Waldner, in der Welt wie nur Waldner und wenige Top-Chinesen. Timo Boll, der 1981 in Höchst im Odenwald geborene Junge, hatte soeben mit diesem Fehlschlag als vierundvierzigjähriges Juwel und Ikone der Tischtenniswelt seine Profi-Laufbahn beendet.
Dass heute Schluss sein sollte, hatte er entschieden, wie dieses Ende verlief, nicht. Und doch spiegelte es die tragische Ambivalenz seiner Einzigartigkeit apodiktisch wider. Dem Zauberer, der den kleinen weißen Ball berührte wie kein Zweiter, dem Tanguero des Tischtennisports, sollte der finale Erfolg verwehrt bleiben. In Deutschland und in Europa hat er im Einzel und mit der Mannschaft mehr Titel gesammelt als jede Tischtennisgröße vor ihm. Nicht einmal der im Westen als Mozart des Tischtennissports bewunderte Waldner konnte da mithalten. Der jedoch hatte in seiner Glanzzeit, anders als sein deutscher Nachfolger, die Weltbühne regiert. Im Einzel zweimal Weltmeister, einmal Olympiasieger, mit der Mannschaft viermal Weltmeister und Olympiasieger hatte er die Tischtennis-Weltmacht China jahrelang ins zweite Glied verwiesen. Deshalb wird er dort mit dem Chinesen Ma Long als bester Spieler aller Zeiten, als "Wao La", immer blühender Baum, verehrt und schaffte es sogar auf eine Briefmarke der chinesischen Post, als einziger Nicht-Chinese. Dieses Kunststück gelang Timo Boll nicht. Doch die Popularität und die Verehrung, die ihm in China entgegengebracht wird, steht hinter der des Schweden nicht zurück, obwohl er mit der Mannschaft und im Einzel bei Weltmeisterschaften und Olympia stets hinter Chinesen rangierte.
Nicht so beim Welt-Cup, den er 2005 als Vierundzwanzigjähriger erstmals in die Trophäensammlung des Höchster Elternhauses holte, nachdem er nacheinander alle drei vor ihm rangierenden Top-Chinesen ausgeschaltet hatte. Damals sah Chinas Nationaltrainer Liu Guoliang, um die Jahrtausendwende selbst Olympiasieger und Weltmeister, in Timo Boll den besten Techniker der Welt und stufte ihn als größte Gefahr für die Tischtennis-Weltmacht China ein. Vor seinen Schlägen, vor seiner Kunst, den Ball zu berühren, hatten die Chinesen großen Respekt, bisweilen Angst, und legten ihren Trainingsschwerpunkt darauf, diesen freundlichen und ihrem Land so wohl gesonnenen Deutschen zu knacken. Das gelang zu Beginn des zweiten Jahrzehntes mit der neuen Spielergeneration um Zhang Jike, Xu Xin und Ma Long. Und dennoch schaffte es der bodenständige Ausnahmekönner aus dem Odenwald dreimal an die Spitze der Weltrangliste, 2003 als zweiundzwanzigjähriger Emporkömmling, 2011 mit dreißig Jahren auf dem Zenit seiner Laufbahn und - die Krönung - noch einmal 2018, mit siebenunddreißig Jahren, als die älteste oder - wie er selbst es gerne belächelt - als die "langsamste" Nummer eins der Welt. Zwölf lange Jahre war er auf den Weltranglistenplätzen eins bis fünf zuhause, gehörte er zu einer Elite, die vom Rest der Tischtenniswelt kaum noch zu schlagen war.
In Anbetracht solcher Beständigkeit auf höchster Ebene war es mehr als angemessen, dass der Gegner im letzten Einzel von Timo Bolls Profi-Laufbahn ebenfalls dieser Elite angehörte. Ochsenhausens Nummer Eins, Hugo Calderano, gewann den letzten Einzel-Welt-Cup und wurde vor wenigen Wochen Vizeweltmeister im Einzel. Mit diesen Erfolgen hat der Brasilianer den Zenit seiner bisherigen Laufbahn erreicht und rangiert auf Platz drei der Weltrangliste. Was die beiden Ballkünstler der Halle boten, war ein Tischtennis-Spektakel, das einigen Kommentatoren das Attribut "episch" entlockte.
Die ersten beiden Sätzen verliefen so, wie erwartet werden durfte. Die körperliche Dynamik der Jugend überrollte die technische Reife des Alters. Dennoch war Bolls hochgradige Motivation zu spüren, nicht klein beizugeben, sondern sich und der Welt noch ein letztes Mal zu zeigen, welchen Weltklasse-Nimbus er erreicht hatte. Das tat er dann auch. In den Sätzen drei, vier und fünf drehte der Vierundvierzigjährige das Rad der Zeit zurück und ließ den achtundzwanzigjährigen Calderano erfahren, wie es ist, gegen den gleichaltrigen Boll aufzuschlagen. Mit Vorhand- und Rückhandschlägen wie in besten Zeiten zog er das Spiel mehr und mehr an sich und ließ seinem Gegenüber kaum noch eine Chance. Die Halle stand Kopf, angesichts dieses unerwarteten Comebacks und der damit verbundenen Serie von Weltklasse-Ballwechseln beider Ausnahmekönner. Timos Machtdemonstration gipfelte in einer 5:1-Führung im entscheidenden fünften Satz. Dann riss der Faden, der Brasilianer holte auf und entschied die Partie beim Stand von 9:9 für sich. Was Timo in diesem "epischen" Spiel zur Vollkommenheit und - wie sich später herausstellen sollte - seinem Verein zum 35. Meistertitel fehlte, war ein Sieg, waren zwei Bälle Vorsprung, war das letzte Quäntchen Glück, war Timos letzter Biss!
Und irgendwie scheint es, als spiegele dieses letzte Einzel seine gesamte Laufbahn wider. Der Kunst, den Ball zu berühren, der Intelligenz, das Spiel zu lesen, beides mit großer Beständigkeit auf allerhöchstem Niveau, blieben in den Momenten, in denen es um die allergrößten Erfolge ging, die entscheidenden Bälle versagt. Das galt zwei Jahrzehnte lang für Olympia und für Weltmeisterschaften, das galt für die Krönung des Abschieds eines der besten Tischtennisspieler aller Zeiten.
Nicht nur Ausnahmesportler, auch Vorbild für die Jugend: Timo Boll, Tischtenniskünstler und Mensch.
